Die methodische Bewertung der Aussagekraft von Einzelstudien erfolgt in Anlehnung an das im Bereich der Therapieforschung entwickelte Modell der Forschungspyramide (vgl. Borgetto et al. 2018). In seiner auf die Selbsthilfeforschung übertragenen Form wird bestimmten Forschungsansätzen und Studientypen eine bestimmte Aussagekraft zugeschrieben, die aufgrund von methodischen Prinzipien in vier Evidenzklassen unterteilt ist (vgl. Abb. 1).
Anders als in den klassischen Evidenzhierarchien der Evidenzbasierten Medizin, die keine Unterschiede zwischen Forschungsansätzen macht und die Aussagekraft einzig nach der internen Validität von Studiendesigns strukturiert, werden in der Forschungspyramide vier Forschungsansätze unterschieden: der quantitativ-experimentelle, der quantitativ-beobachtende, der qualitativ-beobachtende und der qualitativ-experimentelle Forschungsansatz.
Typisch für die Wirkungsforschung im Bereich der Selbsthilfe sind der quantitativ-beobachtende und der qualitativ-beobachtende Forschungsansatz. So werden im Rahmen von Studien z.B. die zu untersuchenden Selbsthilfe-Aktivitäten wie Selbsthilfegruppen oder Beratungsangebote nicht zum Zwecke der Studie initiiert, standardisiert oder anderweitig gestaltet, sondern so beobachtet, wie sie in der Alltagswelt existieren. Die Übertragbarkeit von Studienergebnissen auf die Welt außerhalb des Studienkontextes ist dadurch sehr hoch, die eindeutige Zurechenbarkeit der beobachteten Wirkungen zu den Selbsthilfe-Aktivitäten jedoch begrenzt.
Experimentelle Forschungsansätze sind demgegenüber selten, aber (zumindest international) vorhanden. Das Problem quantitativ- und qualitativ-experimenteller Forschungsansätze ist, dass sie durch die experimentelle Initiierung und Gestaltung der Selbsthilfe-Aktivitäten und der Teilnahmevoraussetzungen z.B. durch Randomisierung nur ein künstliches Abbild von Selbsthilfe-Aktivitäten untersuchen. Zwar gelingt dadurch eine eindeutigere Zurechenbarkeit der Wirkungen zu den untersuchten Selbsthilfe-Aktivitäten, jedoch ist die Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf die Welt außerhalb des Studienkontextes sehr begrenzt.
Ein ähnliches Dilemma ergibt sich im Hinblick auf die methodologischen Vorgehensweisen von quantitativen und qualitativen Forschungsansätzen. Quantitative Forschungsansätze streben meist mit statistischen Methoden die Untersuchung von hohen Fallzahlen, die Isolierung von Wirkfaktoren und die Gewinnung abstrakter, numerischer Daten und Informationen an gewinnen und damit vorrangig statistische Wahrscheinlichkeit von Zusammenhängen zwischen Selbsthilfe-Aktivitäten und deren Wirkungen auf Gruppenebene. Die Übertragbarkeit auf den Einzelfall in der Welt außerhalb des Studienkontextes, z.B. auf eine/n Interessierte/n an einer Teilnahme an Selbsthilfegruppen, reduziert sich damit auf statistische Sicherheit bzw. Unsicherheit. Qualitative Forschungsansätze hingegen streben in der Regel mit offenen und interpretativen Methoden meist nach konkreten und komplexen Erklärungen der Zusammenhänge von Selbsthilfe-Aktivitäten und deren Wirkungen bei einzelnen Fällen, Personen oder Gruppen – häufig auf der Grundlage verbaler Daten. Die Übertragbarkeit liegt hier in dem Wiedererkennen möglicher Übereinstimmungen zwischen dem in den Forschungsergebnissen beschriebenen, konkreten Fällen und dem Einzelfall außerhalb des Studienkontextes. Eine statistische Wahrscheinlichkeit für die Übertragbarkeit ist dabei jedoch nicht gegeben.
Die damit beschriebenen methodologischen Dilemmata führen dazu, dass jeder Forschungsansatz, jeder Studientyp und jedes konkrete Studiendesign seine Vor- und Nachteile hat und sich die Studienergebnisse eher ergänzen, als dass die einen aussagekräftiger sind als die anderen. Deshalb gilt für die methodische Bewertung von Selbsthilfe-Wirkungsstudien der abgewandelte Grundsatz der Forschungspyramide, dass ein überzeugender Beleg für tatsächlich vorhandene Wirkungen von Selbsthilfeaktivitäten nur dann als gegeben angesehen werden kann, wenn Forschungsergebnisse aus Studien mit angemessener methodischer Strenge und hoher Durchführungsqualität möglichst aus allen vier Forschungsansätzen in einem Review zusammengefasst werden und in die gleiche Richtung weisen. Eine einzelne Studie hingegen kann ’nur‘ gute Gründe oder (schwächer) Anhaltspunkte für die Annahme tatsächlich vorhandener Wirkungen von Selbsthilfeaktivitäten anbieten.
Literatur
Borgetto, B., Tomlin, G., Max, S., Brinkmann, M., Spitzer, L., Pfingsten, A. (2018): Evidenz in der Gesundheitsversorgung. Die Forschungspyramide. In: Haring, R. (Hg.): Gesundheitswissenschaften. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, ISBN: 978-3-662-54179-1 . https://link.springer.com/referenceworkentry/10.1007/978-3-662-54179-1_58-1